Lingua   

Der Untergang der Titanic (Fünfter Gesang)

Hans Magnus Enzensberger
Lingua: Tedesco




Raubt, was man euch geraubt hat,
nehmt endlich, was euch gehört,
rief er, frierend, die Jacke war ihm zu klein,
sein Haar züngelte unter den Kränen,
er rief: Ich bin einer von euch,
worauf wartet ihr noch?

Jetzt ist es zeit,
reißt die Barrieren ein,
schmeißt das Geschmeiß ins Wasser
mitsamt seinen Koffern, Hunden, Lakeien
die Frauen auch
und sogar die Kinder,
mit Gewalt, mit Messern mit bloßen Händen!

Und er zeigte ihnen das Messer
und er zeigte ihnen die bloße Hand

Aber die leute vom Zwischendeck,
Auswanderer waren es,
standen da in der dunkelheit,
nahmen ruhig ihre Mützen ab
und hörten ihm zu.

Wann wollt ihr endlich Rache nehmen,
wenn ihr euch jetzt nicht rührt?

Oder könnt ihr kein blut sehn,
außer dem eurer kinder, und eurem eigenen?
und er zerkratzte sich das gesicht
und zerschnitt sich die hände
und er zeigte ihnen sein blut.

Aber die leute vom zwischendeck
hörten ihm zu und schwiegen.
nicht, weil er kein litauisch sprach
(er sprach kein litauisch)
nicht weil sie betrunken gewesen wären
(ihre altertümlichen Flaschen,
eingewickelt in grobe tücher
waren schon lange leergetrunken
nicht weil sie kein hunger hatten
(hunger hatten sie auch):
das alles war es nicht.
Es war nicht so leicht zu erklären.

Sie verstanden wohl, was er sagte,
aber sie verstanden ihn nicht

Seine worte waren nicht
ihre Worte

Sie waren von anderen Ängsten zerfressen
als er, und von anderen Hoffnungen.
Sie standen geduldig da
mit ihren Felleisen, ihren Rosenkränzen,
ihren rachitischen Kindern an den Barrieren,
sie machten Platz,
sie hörten ihm zu, respektvoll,
und warteten, bis sie ertrunken waren.



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